21. Kapitel
Adam überzeugte sich mit einem Blick in den Rückspiegel, dass ihnen das andere Auto noch immer folgte. Helena hatte darauf bestanden, dass ein weiterer Wagen mit vier ihrer Männer sie begleitete - falls sie die Leiche tatsächlich finden sollten.
Dies bewies, dass sie anfing, an Leas Fähigkeiten zu glauben. Er selbst dagegen hatte nichts unversucht lassen wollen und William gebeten, Agenten in alle größeren Flughäfen Großbritanniens zu entsenden und dort eine Kopie von Marys Ausweisfoto herumzuzeigen. Falls die Frau sich nach Südamerika abgesetzt hatte, würden sie es bald wissen.
»Hier links abbiegen«, sagte Lea, die auf dem Beifahrersitz saß. Er bog gehorsam ab. Sie fuhren über die Steinbrücke, die ins Städtchen Dunkeid führte.
»Da lang? Bist du sicher?«, fragte Adam skeptisch.
Dunkeid war eine kleine Ortschaft etwa dreizehn Meilen südlich von Pitlochry. Mit einer Bevölkerung von nur Tausend, konnte man hier schwerlich unbemerkt kommen und gehen. Sie fuhren am Dunkeid Arms Hotel vorbei, an zwei kleinen Bäckereien, einem Cafe mit großen Fenstern, hinter denen ein großer, gemütlicher Kamin und bequeme Polstersessel zu erkennen waren, einem Whiskyladen, einer Metzgerei und mehreren Frühstückspensionen. Wer würde sich ausgerechnet einen solchen Ort aussuchen, um einen Mord zu begehen?
»Mary sagt, sie ist hier mit dem Lieferwagen durchgefahren, die Highstreet entlang und dann nach links in die schmale Landstraße abgebogen, die an der Kirche vorbeiund dann am Fluss entlangführt. Da ist sie, siehst du!« Lea deutete auf die besagte Straße.
Adam bog ab, und sie fanden sich plötzlich auf einer Lichtung wieder. Links das Städtchen mit der Kirche, rechts offene Felder, auf denen Rotwild äste, dahinter majestätisch aufragend die schneebedeckten Spitzen der schottischen Highlands.
»Jetzt rechts«, befahl Lea zehn Minuten später grimmig.
Adam warf ihr einen Blick zu. Sie näherten sich offenbar ihrem Ziel.
Er bog wie gewünscht auf die ungepflasterte Straße ein, die zwischen zwei Steinpfeilern hindurchführte, die früher wohl einmal die zwei Flügel eines Tors gehalten haben mussten. Ein Fasan rannte mit aufgeregt nickendem grünem Hals aus dem Weg. Adam warf einen Blick in den Rückspiegel. Ja, das andere Auto war noch dran.
Nun kamen sie durch einen dichten Mischwald. Auf beiden Seiten ragten die unterschiedlichsten Bäume auf: mächtige Eichen, Birken, Fichten, Lärchen, Tannen ... Aus diesem Grund nannte man diese Gegend auch Big Tree Country. Die Straße schlängelte sich aufwärts, immer höher und immer tiefer hinein in die Wälder. Auf einmal ergab die Ortswahl des Mörders einen Sinn.
Lea umklammerte ihre Armlehne. Adam fiel auf, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Ich bin als Kind ein paar Mal hierhergekommen«, sagte er, um sie abzulenken. »Hierher nach Perthshire, meine ich. Meine Mutter und ihre besten Freundinnen, Violet, Angelica und Storm sind hier oft mit Helena und mir wandern gegangen. Violet hatte eine ungeheuer feine Nase. Sie hat uns zum Beispiel gezeigt, dass die Nadeln einer Douglastanne, wenn man sie verreibt, einen frischen, zitronigen Duft abgeben.«
Lea schaute ihn zwar nicht an, aber ihre Fingerknöchel waren schon nicht mehr ganz so weiß.
»Wann war das?«, fragte sie, den Blick starr geradeaus gerichtet.
Adam bremste ein wenig, da eine scharfe Kurve kam, und fuhr vorsichtig weiter. Es konnte ja immerhin sein, dass Gegenverkehr auftauchte. Unwahrscheinlich, aber möglich.
»Das war in den 1880ern«, antwortete er, »aber die Gegend hier hat sich kaum verändert.«
Sie schaute ihn mit großen Augen an. »Du bist hundertzwanzig Jahre alt?«
Adam schmunzelte. Jetzt hatte er ihre Aufmerksamkeit! »Hundertdreißig, um genau zu sein. Aber wer zählt schon?«
»Einhundertdreißig«, wiederholte sie ehrfürchtig. Sie sah aus, als könne sie ein solches Alter kaum fassen. Sie wollte mehr sagen, doch dann hielt sie inne. »Da. Da ist es«, sagte sie.
Adam folgte ihrem Blick. Vor ihnen tauchte eine Ausweichstelle auf, an der zwei Autos aneinander vorbeikommen konnten. Links ein steiler Abgrund, rechts zog sich der Wald einen Abhang hinauf. Adam fuhr auf die linke Ausbuchtung und blieb neben dem abfallenden Stück stehen. Helenas Männer stellten ihren Wagen hinter ihm ab.
Jetzt galt es, eine Leiche zu finden.
»War das der Treffpunkt?«
Lea schwieg, den Kopf lauschend zur Seite geneigt, eine Haltung, die ihm nun ganz vertraut war.
»Ja, sie hat hier gehalten. Sie hörte ein Geräusch auf dem Dach. Dann erinnert sie sich an nichts mehr.«
Lea stieg aus, und Adam tat es ihr gleich. Ein kalter Wind strich durch die Bäume und brachte den Duft von Tannennadeln und Schnee.
Auch die Männer aus dem anderen Auto waren mittlerweile ausgestiegen. Adam hob die Hand, damit sie blieben, wo sie waren.
»Kann Mary uns noch mehr sagen?«
Lea schüttelte den Kopf. Sie sah aus, als ob sie litt. Adam wünschte unwillkürlich, ihr helfen zu können. Ob ihr Mary wieder die Ohren vollheulte?
Da er nichts tun konnte, konzentrierte er sich darauf, Spuren zu suchen. Er musterte den Boden. Sie hatten Glück; entweder die Bäume hatten den Regen abgehalten oder es hatte in den letzten Tagen hier nicht geregnet.
Kleine Steinchen, Zweige und zerdrückte Tannenzapfen lagen um den Range Rover verstreut.
»Weiß Mary noch, wo genau sie den Wagen abgestellt hat? In der Mitte der Ausbuchtung oder eher am Ende?«
Lea legte den Kopf zur Seite, dann deutete sie auf die Stelle hinter dem Auto. »Hier in der Mitte.«
Adam ging neben dem Hinterreifen in die Hocke und musterte den Boden. Alles andere ausblendend konzentrierte er sich ausschließlich darauf, den Boden nach Spuren abzusuchen; ein Fußabdruck, ein Reifenabdruck, irgendetwas, das helfen konnte. Da fiel ihm ein seltsam rötlicher Schimmer auf einem der Kiesel auf.
Blut.
Aufmerksam musterte er die nähere Umgebung des Kiesels. Ja, da waren noch mehr Blutspuren.
Wenn der Mörder Marys Leiche aus dem Wagen gezerrt hatte, musste er mehr Blutspuren hinterlassen haben. Der Kerl hatte also entweder hinter sich sauber gemacht, oder er war vorbereitet gewesen: ein Müllsack, Plastikfolie, um die Leiche einzuwickeln. Aber keine Methode ist wirklich sicher. Alles hinterlässt eine Spur, zumindest eine kleine.
Er folgte den beinahe unsichtbaren Blutströpfchen bis zum Rand, wo der Boden etwa fünf Meter tief steil abfiel und dann in einem Fünfundvierziggradwinkel zwischen den Bäumen verschwand. Wenn hier eine Leiche runtergeworfen worden wäre, hätte man sie trotz der Bäume sehen können.
Adam begann zu vermuten, dass dies nicht das Werk eines Einzeltäters gewesen war. Prüfend musterte er die Kante des Abgrunds. Und fand, was er suchte.
»Hier«, rief er Helenas Männern zu. Die vier hochgewachsenen Highlander eilten zu ihm hin. »Ihr zwei«, Adam deutete auf die beiden weiter hinten, »ihr bleibt bei der Lady. Und ihr beiden folgt mir.«
»Wo wollt ihr hin?«, rief Lea besorgt. »Hast du was gefunden?«
»Möglicherweise. Aber du wartest besser hier. Ich ...«
»Nein, ich komme mit«, unterbrach sie ihn, bevor er ihr die Lüge auftischen konnte, er würde sie rufen, wenn er die Leiche gefunden habe. Er wollte nicht, dass sie Marys Leiche auch noch sehen musste. Eine Tote pro Tag war schon für einen gestandenen Soldaten schwer zu verdauen, geschweige denn für ein Stadtmädchen aus ... ja, woher stammte Lea überhaupt?
»Du willst nicht, dass ich mitkomme. Aber ich könnte dir helfen!«, bat Lea. Sie warf einen verstohlenen Blick auf die zwei Männer, die hinter Adam standen, und senkte die Stimme. »Viele Geister fühlen sich noch mit ihrem toten Körper verbunden. Mary könnte uns vielleicht helfen.«
Wenn das stimmte, dann konnte sie ihnen vielleicht wirklich helfen. Und dann durfte er natürlich keine Rücksicht auf Leas Zartgefühl nehmen. Nicht während einer Mission.
»Wie heißen Sie?«, fragte er einen der beiden Männer, einen großen rothaarigen Highlander.
»McDougal, Sir. Und das ist Hinley.«
Adam nickte den beiden zu. »McDougal, ich möchte, dass Sie die Lady nachher zu mir runterlassen.«
»Verstanden, Sir.«
Zufrieden wandte sich Adam dem Abgrund zu - und sprang. Kalte Luft rauschte an seinen Wangen vorbei, und dann landete er mit einem Knie auf der Lippe des Absatzes. Er stand auf und drehte sich um. Leas entsetztes Gesicht starrte zu ihm hinunter.
»Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren?«, brüllte sie. »Du hättest dir wer weiß was brechen können!«
Ein Schwärm Vögel flatterte ängstlich aus den Bäumen auf. Er würde Lea eine Standpauke über den Wert der Stille zur passenden Zeit halten müssen.
Er rief nach McDougal.
Leas Gesicht verschwand. Ein Schrei, gefolgt von ärgerlichem Gebrumm, das er nicht verstehen konnte. Er wollte schon ungeduldig hinaufrufen, als Leas Gesicht wieder auftauchte.
»Bin gleich da!«, rief sie und verschwand wieder.
Adam schüttelte den Kopf. Doch dann blieb ihm fast das Herz stehen: Lea kam über den Abgrund geflogen und fiel auf ihn zu! Er machte einen Satz und fing sie gerade noch auf. Diese Verrückte hatte einfach Anlauf genommen und war ins Leere gesprungen!
»Verflucht und zugenäht!«, schimpfte er. »Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?«
Die anderen beiden Männer landeten lautlos rechts und links neben ihm.
Lea zuckte die Schultern. »Willst du die lange oder die kurze Version?«
Diese Frau machte ihn über kurz oder lang zum Mörder.
»Vergiss es.«
Er wandte sich McDougal zu und beschloss, seine Wut an ihm auszulassen; der reichte ihm wenigstens nicht bloß bis zum Kinn.
»Bevor du jetzt sauer auf ihn wirst: Ich hab ihn reingelegt«, sagte Lea hastig.
Adam schloss die Augen. »Könntest du nicht mal still sein, nur für einen Moment?«
Sie hielt die Klappe. Einen Moment lang.
Lea sah zu, wie Adam und die zwei anderen sich hierhin und dorthin beugten und die Bäume und den Boden absuchten. Was suchten sie?
Sie hätte gerne gefragt, hatte aber das Gefühl, Adam mit ihrem kleinen Stunt vorhin schon an die Grenzen getrieben zu haben. Dabei hatte sie ihn gar nicht ärgern wollen; sie hatte einfach Höhenangst. Und da hatte sie sich gedacht: Bring's mit einem Sprung hinter dich, Lea, dann ist es vorbei.
»Da lang«, sagte Adam. Er schien eine Spur gefunden zu haben. Lea folgte den dreien vorsichtig den Abhang zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurch nach unten.
Von einem Ast hoch oben starrte ein rotes Eichhörnchen verwirrt zu ihnen herunter. Lea konnte es ihm nachfühlen, sie war genauso verwirrt.
»Mary, bist du da?«, flüsterte sie und verlor den Halt an einem Zweig, an dem sie sich festgehalten hatte. Verdammt, warum waren Vampire bloß so schnell? Keuchend sprang sie über einen umgestürzten Baumstamm. Aber sie hatte ja unbedingt mitkommen wollen!
»Ja, ich bin da«, antwortete eine mürrische Stimme.
»Keine Sorge, Mary, wir finden deinen Körper schon«, versuchte Lea sie zu beruhigen und duckte sich unter einem Ast durch.
Mary schnüffelte. Sie wollte jetzt einfach nur noch die Fesseln, die sie an diese Welt banden, abstreifen und ihrer geliebten Sara ins Licht folgen. Das spürte Lea, versuchte aber, sich davon nicht zu sehr unter Druck setzen zu lassen.
Die Sonne begann allmählich unterzugehen, und immer noch schritten sie durch den Wald, Adam voran, der, sie nahm es zumindest an, irgendwelchen Spuren folgte.
Sie selbst konnte nichts Ungewöhnliches sehen. Ein leiser Zweifel keimte in ihr auf. Waren sie überhaupt noch auf dem richtigen Weg?
In diesem Moment meldete sich Mary wieder zu Wort.
»Ich spüre etwas!«, sagte sie aufgeregt.
Lea blieb abrupt stehen. »Was? Was denn?«
»Ein Gefühl. Eine Art Ziehen. Ich kann's nicht erklären. Als ob ich das, wo es mich hinzieht, kenne. Es kommt von dort.«
McDougal machte Adam auf Leas merkwürdiges Verhalten aufmerksam. »Lea?«
»Moment!« Sie lauschte. »Wohin, Mary? Wohin, hast du gesagt? Du musst es mir beschreiben, ich kann dich ja nicht sehen.«
»Da, ihr müsst am Monkey Puzzle Tree vorbei!«
»Was? Was für ein Baum? Monkey Puzzle?«
»Ein Monkey Puzzle Tree? Die Chiletanne, meint sie?«
Adam deutete mit einer Kopfbewegung auf einen großen Nadelbaum mit zickzackförmig hervorwachsenden Asten.
So sah der also aus! Jetzt war ihr auch klar, warum der englische Name so lautete. »Ja, da müssen wir vorbei«, sagte sie zu den drei Männern und ging voran.
Adam nickte den Männern zu und folgte ihr. Lea konzentrierte sich auf Marys Anweisungen. Links. Rechts. Unter dem Ast durch. Rechts. Sie wollte gerade über einen besonders dicken umgefallenen Baumstamm steigen, als sie von Adam zurückgehalten wurde.
»Stop, Lea. Bitte bleib hier stehen.«
Seine Nasenflügel bebten, und sein Gesicht war wie versteinert.
Lea spürte, wie Furcht in ihr aufstieg. »Hast du sie gesehen?« Sie schaute sich nach allen Seiten um, konnte Marys Leiche aber nirgends entdecken.
»Dieses eine Mal will ich, dass du einfach nur tust, was ich dir sage, und hier stehen bleibst.«
Als Lea sah, dass auch McDougal und Hinley ganz grimmige Gesichter machten, nickte sie, von einer bösen Vorahnung geplagt. Warum sagte Mary nichts?
»Okay.«
»Versprich es mir«, beharrte Adam.
»Ich versprech's.«
Die Männer traten über den Baumstamm. Adam sagte leise etwas zu ihnen, und sie verteilten sich. Was hatten sie vor?
Lea reckte den Hals und beobachtete, was McDougal, der ihr am nächsten war, tat. Er grub in der Erde! Es war mittlerweile so dunkel geworden, dass sie kaum noch etwas erkennen konnte. Was grub er da aus?
Großer Gott!
Lea schlug die behandschuhte Hand auf den Mund und wandte sich ab. Aber es war schon zu spät, sie hatte gesehen, was McDougal ausgegraben hatte: einen abgetrennten Arm.
Eine Ewigkeit später, wie ihr schien, drang Marys Stimme wieder an ihr Ohr.
»Sie haben jetzt alles von mir gefunden, Lea. Es ist vorüber.«
Lea öffnete blinzelnd die Augen. Um sie herum war der stille, dunkle Wald. Dass sie an dem Baumstamm lehnte, hatte sie gar nicht gemerkt.
»Es tut mir leid, Mary.«
»Nein, nein, das muss es nicht. Ich bin dankbar, dass ich einen Menschen wie dich getroffen habe. Jemanden, der sich so viel Mühe gemacht hat, um mir zu helfen. Danke, Lea. Ich danke dir.«
Ihre Stimme war leiser, immer ferner geworden, wie immer, wenn eine Seele sich von dieser Welt löste.
»Gern geschehen«, flüsterte Lea in die stille, kalte Nachtluft.
Mary war jetzt endlich frei.